Spektakuläre Funde im Kirschengarten
von Katja Körner
„ Huääääh! Ilka, Ilka, komm schnell her, schnell. Kuck dir das an!“ schrie Anne mit vor Entsetzen vibrierender Stimme. Das war sonst nicht ihre Art. Anne war eigentlich immer eine ruhige und eher zurückhaltende, reservierte Archäologin.
„Hier liegt ’ne frische Mumie!“ „Wie?“ Ilka wunderte sich über diese unpräzise Beschreibung: Mumien sind nie frisch! „Nee, eigentlich eine alte Leiche! Kuck mal, kuck mal! Die muss schon ’ne Zeit hier liegen. Aber eigentlich ist die noch ganz frisch!“ Anne schien recht verwirrt.
Ilka und Anne waren vom Landesdenkmalamt Stuttgart nach Heilbronn beordert worden, um im neuen Baugebiet Kirschengarten nach alten Rücklassenschaften der Menschen aus der Zeit der Bänderkeramik zu graben. Sie waren fündig geworden und hatten eine großartige Grabanlage von einer fünftausend Jahre alten Familie gefunden. Einmalige Scherben von Gebrauchskeramik, wie sie nur noch ganz selten auftauchten. Sogar ein Armband aus Eisen hatten sie entdeckt und eben die Skelette der Familie hatten sie gefunden. Aber jetzt auch das noch! Ilka rannte zu der Stelle, an der ihre Kollegin Anne eben noch gegraben hatte.
„Kuck mal, kuck mal, die liegt hier noch nicht lange. Uiih, die sieht ja ganz schön ecklig aus. Aber etwas frisch ist sie doch noch. Mensch, was machen wir jetzt?“ Anne war ganz aufgeregt.
„Wir rufen die Polizei.“ stellte Ilka trocken fest. „Wer ist sonst zuständig? Wir nicht. Wir machen in Mumien, wir machen nicht in Leichen.“ Ilka war nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. „Anne, komm raus aus deinem Loch und fass nichts mehr an.“
Ilka wählte die 110 und hatte gleich eine freundliche Stimme in der Leitung. „Geben Sie mir bitte sofort die Mordkommission.“ fordert sie bestimmt. „Wie? Die Mordkommission?“ „Mein Name ist Ilka Müller, Landesdenkmalamt Stuttgart, Grabungsleiterin im Heilbronner Kirschgarten. Hier ist eine Leiche.“ erklärte Ilka kurz angebunden. „ Hä, hä, na, dann graben Sie mal ruhig weiter, wenn Sie vom Landesdenkmalamt kommen. Ihre Leichen haben es ja nicht eilig. Mit denen haben wir nichts zu tun.“ scherzte der freundliche Polizist am anderen Ende.
Ilka reagierte gereizt: „Mein Herr, wir haben hier keine Mumie, wir haben hier eine Leiche. Leichen sind frisch und Mumien sind alt. Und für Leichen sind eindeutig Sie zuständig.“ „Äh, wie frisch?“
„Na, ziemlich frisch!“ erwiderte Ilka patzig. „Also, die Leiche ist nicht wirklich frisch. Die liegt wohl schon etwas länger. Aber sie ist eindeutig noch keine Mumie!“
„Aha, eine halbfrische Leiche.“ Der Beamte brauchte etwas Zeit.
„Ja, eine ziemlich frische Leiche, keine Mumie. Und jetzt geben Sie mir bitte endlich einen Kollegen von der Mordkommission.“
„Augenblick, ich werde Sie gleich weiterleiten. Ja, kleinen Moment, bleiben Sie dran, bleiben Sie dran. Wo sind Sie jetzt?“ „ Im Kirschengarten“ antwortete Ilka fast ungehalten. „Ich leite Sie sofort weiter. Legen Sie nicht auf. Bleiben Sie dran.“
Nach einem kurzem Moment meldete sich ein Kommissar. „ Sie melden einen Leichenfund im Kirschengarten?“ „Ja, korrekt.“ Ilka gab an, sie sei vom Landesdenkmalamt und mit Grabungsarbeiten im Kirschengarten beschäftigt. Dabei hätten sie soeben eine „frische“ Leiche und keine Mumie gefunden. „Nur zur klaren Unterscheidung, um die Zuständigkeiten von vorn herein festzulegen.“ betonte Ilka unwirsch.
„Wir sind gleich da, bitte fassen Sie nichts mehr an und räumen Sie den Fundort.“ sagte der Kommissar freundlich. „ Und könnten Sie bitte dafür sorgen, dass sonst keiner dort neugierig herumläuft?“
Anne war inzwischen von der Leiche zurückgetreten und zappelte neben Ilka herum. „Wann sind die da?“ wollte sie wissen. Ilka lies sich nicht aus der Ruhe bringen. „Anne, die kommen gleich. Wir sammeln unser Besteck ein, sonst nehmen die uns das noch weg. Ansonsten bitte nicht mehr in die Grube steigen. Die kommen mit der Spurensicherung und dann werden wir mal sehen, was die noch alles finden!“
„Was wollen die denn noch finden?“ fragte Anne verwundert. „Ausser der Leiche gibt es doch weder Fußabdrücke noch sonst was. Was glaubst du, Ilka, wie lange ist die Leiche schon hier?“
„Kann ich so nicht bestimmen. Das lass ich die anderen machen. Die Gerichtsmedizin hat da ihre eigenen Methoden. Aber ich vermute, länger als ein Jahr liegt die nicht hier.“
„Schau, die Kleidungsstücke sind noch nicht so stark zersetzt. Dafür, daß der schon so lange hier vergraben ist.“ wollte Anne wissen. Ilka schickte sie zu ihrem Auto, um die Thermoskanne mit Tee zu holen, in der Absicht, dass sie sich etwas abregte. Sie kannte Anne gar nicht wieder. Die sonst so stille Grabungsassistentin war plötzlich wie ausgewechselt.
Anne war gleich wieder da, mit einer Teetasse in der Hand und grübelte aufgeregt laut weiter.
„Ilka, schau mal, die Jacke ist kein Leder, das ist Kunstleder, das verrottet nicht so schnell. Ob die an der noch DNA vom Mörder finden können?“
„Anne!“ fuhr sie Ilka barsch an. „Jetzt überlass das doch mal den Technickern von der Spurensicherung oder wer sonst diese Untersuchungen macht. Und, Anne: Wir werden da nicht helfen! Das ist nicht unser Fachgebiet!“ wies Ilka Anne in ihre Schranken. „Ich bin ja nur neugierig.“ „Das ist ja ok. Aber halt dich zurück, bevor die meckern und wir die Polizeiarbeit behindern.“ Ilka war nun mal nicht so schnell zu beeindrucken. Das stand so ganz im Gegensatz zu ihrer Begeisterung für tausend Jahre alte Scherben.
Die Polizei kam recht schnell mit Blaulicht und vier Wagen. Ein gut aussehender, breitschultriger Mann kam auf die beiden Frauen zu.
„Sind Sie Frau Ilka Müller vom Landesdenkmalamt Stuttgart? Ich bin Kriminalhauptkommissar Rieger. Zeigen Sie mir bitte den Fundort?“
„Eigentlich habe ich die Leiche gefunden.“ drängelte sich Anne in den Vordergrund. „Ach, dann können Sie mir auch genau schildern, wie Sie auf den Körper gestoßen sind.“
Anne schilderte alles haargenau, denn wie auch bei ihrer eigenen Arbeit, musste ja jeder Schritt genau dokumentiert werden. „An Ihnen ist ja eine richtige Kriminologin verloren gegangen!“ lobte sie der Kommissar.
Eilig wurde das ganze Grabungsfeld mit blau-weissem Polizeiband abgesperrt. Die Techniker in ihren weißen Ganzkörperschutzanzügen fotografierten, dokumentierten und hoben schließlich den Leichnam auf eine Bahre. Da war auch schon der ganze Nachmittag vergangen. Aber letztendlich waren Kripo und Spurensicherung mit allem fertig und Kommissar Rieger übergab das Gebiet wieder an Ilka.
„Sie haben recht, mit der Einschätzung, dass die Leiche schon einen längeren Zeitraum hier gelegen hat. Wir schätzen auch mal auf etwa neun bis zwölf Monate. Aber genaueres wird die Obduktion bringen. Wir haben leider keine Papiere oder andere persönlichen Gegenstände gefunden.“
Anne drängelte sich wieder aufgeregt dazwischen: „Gleichen Sie jetzt die DNA mit den verschwunden, äh, beziehungsweise gesuchten Personen ab?“ „Ach, das kann ich alles noch nicht beantworten. Da werden wir uns jetzt an die Feinarbeit machen. Aber, wenn Ihnen noch etwas auffällt, dann rufen Sie mich doch jederzeit an.“ Damit überreichte er Anne seine Visitenkarte.
„Klar, mache ich. Vielleicht finde ich ja noch seine Brieftasche!“ scherzte sie mit einem Augenzwinkern. Anne wuchs über sich hinaus. Ilka erkannte ihre Kollegin gar nicht wieder.
Für die beiden war jetzt auch Feierabend. Sie packten ihre Gerätschaften in den Werkzeugkasten, der vor Ort gesichtert war und verabredeten sich auf einen Absacker oben auf dem Wartberg. „Laß uns zum Ausklang noch mal da hoch gehen, die Aussicht über Heilbronn ist so schön und übermorgen ist ja auch für uns hier Schluß, dann kommen die Bagger und beginnen mit dem Wohnungsbau.“
Später saßen Ilka und Anne bei einem Glas Lemberger oben auf der Wartberg-Restaurantterrasse und genossen den Sonnenuntergang jenseits der Heilbronner Periferie. Sie gingen nochmals ihre zukünftigen Pläne durch.
Das war eine hochspannende Grabanlage im Kirschengarten gewesen, mit wundervollen kleinen Schätzen, die sie geborgen hatten in der Zeit vom Frühling bis jetzt in den Spätsommer. Heilbronn, eine Episode in ihrer nie endenden Grabungsarbeit, die sie überall in Deutschland beschäftigte.
Ilka hatte schon ein neues Feld im Hochschwarzwald und es erwartete sie eine hoffentlich lohnende Aufgabe, vielleicht so interesssant wie im Kirschengarten.
Anne wußte nicht so recht. Sie wollte noch ein wenig hier bleiben. Es war doch spannend, heraus zu finden, warum jetzt dieser Mensch so lange dort tot zwei Meter unter der Erde im Kirschengarten lag, wer ihn da hingebracht hatte und vor allem wer der Mörder war. Vielleicht konnte sie ja doch noch dem Kommissar bei seiner Aufklärungsarbeit helfen. Sie hatte da auch schon eine Idee!